Eine Frage der Schuld

Ich durfte eine Zeitlang in meinem Berufsleben als Eskalations-Projektleiter in Projekte gehen, die eine erhebliche Schieflage hatten. Meist wurde ich dort extrem kurzfristig eingeflogen und musste mir in wenigen Tagen ein Bild vom Projekt und der aktuellen Lage verschaffen. Dabei hat es mich oft in meiner Arbeit gestört, wenn meine Zeit in diesen ersten Meetings mit gegenseitigen Schuldzuweisungen verschwendet wurde. Weitergebracht hat mich das Thema „Schuld“ nämlich nie. Es ist für die Projekte eher verlustbringend – und ja ich rede über Euro.

Der herausragendste Fall war ein Projekt in dem drei Provider für einen Kunden eine längst überfällige Umstellung umsetzen mussten. Wir waren einer der Provider. Es waren einige Milestones gerissen worden, wir mussten schon Vertragsstrafen zahlen und der Go-Live-Termin schien aussichtslos, da fast nichts fertig war.

Das Projekt wurde von einem externen Projektmanager ausgesteuert, der mir lang und breit erklärte, dass die drei Provider nicht zusammen arbeiten würden und erzählte mir viele Anekdoten. Nach der dritten oder vierten Anekdote fragte ich ihn, was er denn zur Lösung dieser Situation versucht hat, darauf bekam ich keine überzeugende Antwort. Das war schon mal kein gutes Zeichen.

Mit den Vertretern des eigenen Teams und der anderen beiden Provider kam es zu massiven Schuldzuweisungen. Sowohl innerhalb, als auch Außerhalb der Teams. Es wurde lang und breit immer wieder in diese Diskussionen verfallen. Es gelang mir kaum, mit den Beteiligten die wichtigsten nächsten Schritte zu besprechen oder gar einen Schlachtplan für die nächsten Wochen aufzustellen. Immer wieder ging es um Schuld. Irgendwann kam mir der Gedanke, den ich auch laut ausgesprochen habe „Okay, ich stelle mich als Sündenbock zur Verfügung, ich nehme alle Schuld auf mich!“.

Die nächsten 4-5 Schuldzuweisungen – die natürlich aufkamen – nahm ich an und sagte: „Stopp, ich habe die Schuld daran, das hatten wir doch vereinbart“ und diese Diskussionen endeten. Das tat ich auch bei Mitarbeitern der anderen Provider, die in anderen Projekten unsere Mitbewerber waren. Das sorgte für ein wenig mehr Konzentration in der großen Runde. So das wir genug Material hatten um die wichtigsten Themen in einer verkleinerten Runde am nächsten Tag zu besprechen.

In dem Projekt selbst war ein entscheidendes Hemmnis anscheinend nicht angegangen worden, es fehlten allenthalben die Zuarbeit des Kunden. Deshalb stockte es sogar bei den Teams, die durchaus eigenständig hätten arbeiten können. Auch kam es mir komisch vor, dass Vertragsstrafen gezahlt werden, obwohl auf Kundenseite fast keine Ansprechpartner benannt waren.

Der Projektleiter sagte mir, dass er dafür nicht zuständig sei, er erklärte mir mit vielen Worten warum dies nicht in seinem Auftrag abgedeckt ist. Mir war das an der Stelle schon lange zu bunt, also traf ich mich mit den anderen beiden Providern und ging zum Kunden. Mithilfe des Vertriebs hatten wir hochrangige Ansprechpartner, die sich entsetzt zeigten und sowohl für eine (etwas) bessere Unterstützung sorgten, als auch die Pönaleforderungen sofort stoppten. Das war tatsächlich etwas Glück, Überraschungsmoment und vor allem dem gut vernetzten Vertrieb zu verdanken.

Am nächsten Tag kam der Projektleiter mit einem kleinen Stapel Papier in das Büro – seinem Vertrag – und wollte mir schriftlich Darlegen, dass er nicht zuständig sei. Ihm schwante, glaube ich schon nichts Gutes. Ich fragte ihn, ob er mir jetzt wirklich erklären will, dass er für eine monatliche Einsparung eines unteren 5-stelligen Betrages für seiner Auftraggeber nicht zuständig sei.

Das Projekt haben wir drei Provider dann gemeinsam noch einigermaßen retten können. Es hat sich irgendwie schnell ein guter  Kampfgeist im Projekt entwickelt. Den Projektleiter haben wir einstimmig aus seinen Verträgen entlassen und – jeder in seiner Organisation – einige Teammitglieder so gut es ging ausgetauscht oder mit Freelancern ergänzt. Wir haben dann gegenseitig Aufgaben übernommen, Testsysteme bereitgestellt und es fast pünktlich geschafft. Die notwendigen Abnahmen konnten gerade noch rechtzeitig meist auf Beta-Ständen eingeholt werden, Version 1.0 konnte nur allerwichtigste Funktionen und die finale Version kam 6 Wochen zu spät.

Ein anfangs sehr erboster Fachbereichsleiter des Kunden hat zum Schluss sogar geholfen, das die 6 Wochen Verzug vermutlich nur wenigen Endkunden aufgefallen sind. Es waren alle stolz auf die Arbeit und Mitbewerber fanden es schade nun zu Projektende auseinander gehen zu müssen.

Aber ich wollte ja über Schuld schreiben. Die Schuldzuschreibungen haben uns gar nichts geholfen. Wobei wenn ich so recht bedenke, die am lautesten über Schuld gestritten haben, waren die Personen, die wir austauschen mussten. Nicht zu schuldig sein und andere zu beschuldigen, bedeutet nämlich ganz oft, keine Verantwortung übernehmen zu wollen.

Ich habe diesen Satz „Okay, ich nehme alle Schuld auf mich!“ noch oft eingesetzt. Denn ich habe in keinem dieser angebrannten Projekte jemals erlebt, dass es wirklich diesen einen Schuldigen gab. Das dichteste was ich an „Schuld“ erlebt habe war Inkompetenz. Wenn Firmen Personen in Projekte schicken, die nicht die notwendige fachliche Kompetenz haben und dann Mist bauen, dann reden wir auch hier nicht über Schuld, sondern einen Mangel an Professionalität.

Schuldzuweisungen führen fast immer zu einer Verantwortungslosigkeit, die oft mit finanziellem Schaden einhergeht. Es gibt tatsächlich einen Schlag von Mitarbeitern, denen nicht wichtig ist, dass ihre Firma Geld verliert. Sie sind ja nicht Schuld an dem Problem, sondern ein anderer.

Projekte und Organisationen, die als Teil ihrer Kultur Schuldzuweisungen pflegen, sind in den meisten Reifegrad-Modellen tatsächlich Reifegrad Null. Das hat auch einen guten Grund, nicht nur das es nervt dort zu arbeiten, sondern Schuldzuweisungen wirken wie Betäubungsmittel in der eigenen Entwicklung. Ein Streben nach Effizienz oder gar Innovation ist in solchen Organisationen nicht in der Mehrheit, weil Exploration immer Gefahr, Fehler und Stolpern mit sich bringt.

Man findet in Projekten diese Art von Kultur tatsächlich öfter als man denkt. Meist in einer Art sinnfreiem Sündenbock-Prinzip, die Schuldigen haben eigentlich keine Konsequenzen zu erwarten, beim nächsten Projekt sitzen sie auf der anderen Seite und dann bestimmen sie den nächsten Sündenbock.

Wenn Menschen einen Sündenbock brauchen, so ist das zwar verständlich aber schlichtweg ein Mangel an Kultur.

Was habe ich aus dieser Zeit mitgenommen:

  • Schuldzuweisungen sind weder produktiv, noch lösen diese Probleme
  • Eine Sündenbock-Kultur fördert verantwortungsloses Verhalten, das kostet immer Geld. Auch fehlende Effizienz ist bares Geld.
  • Ungerechte Schuldzuweisungen sind gigantische Demotivatoren für Projektmitarbeiter
  • Eine Vorgeschichte des Ignorierens oder killen der Messenger ist eine große Hypothek für Projekte. Probleme verschwinden nie, aber die Überbringer der schlechten Nachrichten werden still. Probleme in der Endphase kosten eine Menge Geld. Hier muss versucht werden Vertrauen zurückzugewinnen.
  • In komplexen Projekten oder in empirisch fortschreitenden Projekten sind Fehler unvermeidlich und müssen als Antrieb genutzt werden. Schuld hat da nichts zu suchen.
  • Wenn es gelingt den Blick aufs Ganze zu lenken, wird auch aus manchem „nicht zuständigen“ ein ganz passabler Projektmitarbeiter.
  • Gewonnenes Vertrauen kann sogar einen von seinem Management als Sündenbock geschlagenen und getretenen Mitarbeiter motivieren. Ist mir einmal gelungen, dieser gute Mensch war 15 Monate vor Rente, das hat mich sehr gefreut.