In den sozialen Medien sehe ich immer wieder mit Erstaunen, dass einfache und unreflektierte Appelle hohe Klickraten erzielen. Die sind zum Teil schon uralt, werden aber alle paar Wochen wieder gepostet und bekommen tausende Klicks. Mir sind diese Floskeln zu langweilig und ich finde sie öde, aber die Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Medien liebt genau solche Kalendersprüche.
Einer der Appelle lautet: „Arbeitgeber, bewertet die Leistung, nicht die Anwesenheit“. Ein toller Appell, ein wunderbares Thema, über das man trefflich diskutieren kann. Im Übrigen ist es auch sehr wertschaffend, wenn sich Unternehmen ernsthaft damit auseinandersetzen. Für die meisten Unternehmen heißt das eine tiefgreifende Veränderung, das ist nicht so einfach.
Wenn ich alle 14 Tage diesen Aufruf auf meiner Timeline sehe, muss ich immer wieder an so manchen Konzern denken und schmunzeln. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer etwas jüngeren Bereichsleiterin. Mein Team war damals bekannt für seine hohe Effizienz unter Anderem dank Lean, Agile und Diversity und ich wurde oft gefragt, was hinter dem Ganzen steckt.
Nach so einem Vortrag nahm mich die Kollegin beiseite und erklärte mir, wie man in einem Konzern zu etwas kommt. Es war ein sehr tolles Gespräch, sie hat eine ganz andere Weltsicht als ich, aber ich schätze es sehr, dass sie mir offen ihre Vorgehensweise erklärt hat. Hier die wichtigsten Methoden ihrer Strategie „Präsenz“.
Immer lange bleiben, im Großraumbüro einen Platz suchen, der von jedermann gut einsehbar ist. Wenn am Abend die Beleuchtung ausgeschaltet wird, nicht wieder einschalten, sondern nur den eigenen Arbeitsplatz beleuchten. Zwei LED-Schreibtischlampen sind ideal.
Immer darauf achten, Aufmerksamkeit zu erhalten. Die Vorstandsetage aufsuchen, sich nach Terminen und Anwesenheit erkundigen, den Aufzug genau dann nehmen, wenn abends die letzte Vorstandssitzung stattgefunden hat, im Aufzug erwähnen, dass man eine kleine Pause macht und sich nur ein Getränk aus dem Automaten im Erdgeschoss holt.
Wenn man irgendwo hingeht, immer etwas unter dem Arm haben, ideal ist ein Hefter, auf dem man mit einem Stift etwas notieren kann. Gegen die Langeweile viele Unterlagen auf dem Schreibtisch ausbreiten, dazwischen kann man dann private Lektüre vergraben. Auch das private Tablet fällt bei all dem Kram nicht so auf.
Sie hatte noch ein Dutzend weiterer Tipps dieser Art. Diese Methoden waren in dieser Firma sehr erfolgreich und ich denke, das gilt auch für zahlreiche andere Konzerne. Wie gesagt, überhaupt nicht meine Welt, aber ein sehr sympathisches Gespräch, ich musste sehr schmunzeln und habe mal eine andere Weltanschauung gesehen.
Nun zur Bewertung der Strategie „Präsenz“ und der Alternative „Leistung“:
Nehmen wir an, bei der nächsten Reorganisation wird ihr Name in den Ring geworfen. Die Reorganisation wird von einer kleinen Gruppe von Leuten diskutiert, die Zugang zu Hunderten von Kandidaten haben. Der Name fällt und die meisten im Gremium kennen die Mitarbeiterin nicht sonderlich gut, haben aber einen positiven Eindruck: „Ach, das ist die, die immer so lange bleibt“. So findet die Strategie „Präsenz“ in der Breite bequem viele Unterstützer.
Dies ist wesentlich einfacher als eine übereinstimmende Bewertung der Leistungen von Hunderten von Bewerbern. Diese Leistungen müssen für das selbe Entscheidungsgremium transparent sein. Überlegt euch mal, wie viele Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein solches Gremium mehrheitlich sagt: „Ach, das ist die, die immer so tolle Leistungen erzielt“.
Eine Voraussetzung ist die gegenseitige Anerkennung und der gegenseitige Verweis auf die Leistung. „Ohne die Kollegin hätte ich das nie geschafft“ oder „Das Team brannte für den Erfolg, ich musste kaum unterstützen“ und viele Sätze mehr.
So, jetzt haben wir etwas Greifbares für die Leute im Team „Leistung“. Nicht nur den schwer umsetzbaren allgemeinen Satz „Bewertet Leistung statt Anwesenheit“. Wie wäre es mit dem Appell: „Sprecht heute einmal vor versammelter Mannschaft ein Lob an eine Kolleg:in aus!“
Ist in jedem Unternehmen gut umsetzbar, egal ob es sich um Mitglieder des Teams „Anwesenheit“ oder des Teams „Leistung“ handelt. Auch wenn das Thema „Leistung“ in eurem Unternehmen schon sehr gut gehandhabt wird, kann ein wenig Lob nie schaden.