Wenn über Vision oder Purpose (Unternehmenszweck) diskutiert wird, kommt regelmäßig aus der zweiten Reihe der Zwischenruf: Die ehrliche Antwort auf die Frage nach einer Vision laute doch „Geld verdienen“. Tatsächlich stehen Vision und Purpose für die Fokussierung auf ein langfristiges Ziel. Wenn aber laut den Zwischenrufern die ehrlichste Vision „Geld verdienen“ ist, so nehmen wir dies für einen Moment als Arbeitshypothese für eine fiktive Beispielfirma.
Gemäß dieser Vision konzentrieren wir uns auf die finanziellen Entscheidungen. Gut, dann lasst uns diese „Vision“ in die Praxis umsetzen. Nehmen wir an, zwei Vertriebskoleg:innen haben zwei mögliche Aufträge am Haken. Auftrag Nummer eins bringt uns einen großen Kunden, viel Umsatz mit wenig Marge und die Aussicht auf mehr Geschäft in den nächsten Jahren. Auftrag Nummer zwei ist kleiner, aber mit einer sensationellen Marge.
Unser kleines Beispielunternehmen kann nicht beide Aufträge gleichzeitig erfüllen. Wir müssen uns entscheiden. Da eine Vision eine steuernde Wirkung hat, schauen wir uns den Zielfokus „Geld verdienen“ an. Und siehe da, unsere Vision sagt weder „schnell Geld verdienen“ noch „nachhaltig Geld verdienen“.
Abgesehen von einem mangelnden Verständnis für den Wert einer Vision, könnte der Ruf nach „Geld verdienen“ auf moralische Fragen anspielen. Vielleicht auch auf die Diskrepanz zwischen einer globalen, weltverbessernden Vision und der vierteljährlichen Mitarbeiterversammlung, in der 90% der Redezeit für Pipeline, Umsatz und andere finanzielle Leistungsindikatoren verwendet wird.
Die wenigsten Unternehmen verfolgen uneigennützig ein hehres Unternehmensziel. Unternehmen wollen von Natur aus Geld verdienen. Was für Geschäfte sie machen wollen, sollte in der Vision stehen. „Geld verdienen“ ist ein Leistungsindikator und überlebenswichtig, aber es ist nicht die Zielorientierung und schon gar nicht die Vision. Aus der Vision muss sich ableiten lassen, wie ich handle, ob ich den kurzfristig lukrativen oder den langfristigen Auftrag wähle.
Vor Jahren lernte ich einen jungen Mann kennen, der in seinen Ferien Geld für ein soziales Projekt verdiente, in dem er sich schon lange ehrenamtlich freiwillig betätigte. Bei diesem Engagement ging es darum, sozial auffällige Jugendliche durch Sport aufzufangen und zu betreuen. Um das Projekt zu finanzieren, machte er Werbung für Glücksspiel und Alkohol. Dabei war es ihm wichtig, möglichst viel Geld einzunehmen. Er meinte, wenn diese Werbegelder am Ende einem guten Zweck dienten, dann sei das für ihn in Ordnung.
Dies ist das krasseste Beispiel für die Diskrepanz zwischen einer sozialen Vision und den Mitteln zur Geldbeschaffung, das ich kenne. Die Vision ist ein gemeinsamer Traum, sein Traum war die Finanzierung von Sportgeräten für sein soziales Projekt. Nicht „Geld verdienen“, das ist nur der Weg dorthin. Über die Art und Weise, wie er das gemacht hat, kann man moralisch streiten.